Wie Relaxin und andere Faktoren das Bindegewebe beeinflussen
Schön, dass du hier bist.
Als Physiotherapeut:in oder Hebamme weißt du, wie herausfordernd die postpartale Zeit sein kann – nicht nur für unsere Patientinnen, sondern auch für uns, die wir sie begleiten.
Immer wieder höre ich: "Kann ich nach drei Monaten endlich wieder joggen gehen?"
Dabei wissen wir, dass die Verletzungsgefahr in dieser Phase, gerade während der Stillzeit, höher ist.
In diesem Artikel erkläre ich dir, warum das Bindegewebe nach der Geburt so lange weich bleibt, welche Rolle Hormone wie Relaxin spielen und warum der Hype auf schnelle Regeneration nicht funktioniert.
Ich gebe dir praxisnahe Tipps und stütze meine Ausführungen auf mehrere bewährte wissenschaftliche Studien.
Relaxin als Katalysator in der späten Schwangerschaft
Erinnerst du dich an die intensiven hormonellen Prozesse in der späten Schwangerschaft? Relaxin spielt dabei eine zentrale Rolle:
Aktivierung wichtiger Signalwege:
Schon vor der Geburt werden durch Relaxin Prozesse in Gang gesetzt, die den Abbau und die Umstrukturierung des Kollagen-Netzwerks fördern.Nachhaltige Wirkung:
Auch wenn der Relaxinspiegel nach der Geburt schnell sinkt, bleiben die einmal angestoßenen Signalwege – beispielsweise die erhöhte Aktivität von Matrix-Metalloproteinasen (MMPs) – länger aktiv. Das bewirkt, dass das Gewebe über Monate hinweg weich und dehnbar bleibt.
Langfristige strukturelle Veränderungen
Ein wesentlicher Grund, warum ich in meiner Praxis immer wieder betone, dass man den Wiedereinstieg in den Sport langsam angehen sollte:
Reduzierte Kollagenquervernetzung:
Relaxin bewirkt, dass das Kollagen in der späten Schwangerschaft weniger stark vernetzt wird – was zu einem dehnbaren, weichen Bindegewebe führt.Verlängerter Umbauprozess:
Der Wiederaufbau des Kollagen-Netzwerks dauert Wochen bis Monate. Daher ist es vollkommen normal, dass das Gewebe auch nach drei Monaten noch nicht „wieder fit“ für intensiven Sport wie Joggen ist.
Ich sage oft: „Wir wissen nicht genau, wie lange Relaxin im Körper wirkt – also drängen wir nicht zu früh auf Sport zurück!“
Mechanische Belastung und Mikrotraumata
Die Geburt ist ein intensives Ereignis, bei dem es zu Mikroverletzungen im Bindegewebe kommen kann:
Mikrotraumata im Gewebe:
Während der Geburt entstehen kleine Verletzungen, deren Reparatur einige Zeit benötigt – das trägt dazu bei, dass das Gewebe noch länger weich bleibt.Praxisrelevanz:
Deshalb ist es so wichtig, in der postpartalen Behandlung behutsam vorzugehen und den Wiedereinstieg in sportliche Aktivitäten schrittweise zu gestalten.
Warum bleibt das Gewebe weich, wenn der Östrogenspiegel fällt?
Auch wenn nach der Geburt der Östrogenspiegel deutlich sinkt, bleibt das Bindegewebe weich – und das hat mehrere Gründe:
Hoher Östrogenspiegel während der Schwangerschaft:
Während der Schwangerschaft unterstützen hohe Östrogenspiegel das Wachstum der Gewebe, fördern die Kollagensynthese und verbessern die Durchblutung. Diese Funktionen bereiten den Körper optimal auf die Geburt vor.Plötzlicher Abfall, aber verzögerter Umbau:
Nach der Geburt sinken die Östrogenspiegel schnell ab. Dennoch haben die in der späten Schwangerschaft angestoßenen Umbauprozesse, die auch durch Relaxin unterstützt werden, bereits tiefgreifende Veränderungen im Bindegewebe bewirkt.Funktion von Östrogen:
Östrogene spielen vor allem eine Rolle beim Aufbau und bei der Stabilisierung des Gewebes – beispielsweise durch Förderung der Zellproliferation und Angiogenese. Der schnelle Hormonabfall führt daher nicht sofort zu einer Festigung des Gewebes, da der bereits eingeleitete Umbauprozess noch aktiv ist.
Diese hormonellen Wechselwirkungen zeigen, warum ein langsamer, behutsamer Wiedereinstieg in sportliche Aktivitäten essenziell ist, um das Risiko von Verletzungen zu minimieren.
Praktische Tipps für deine Therapie
Hier möchte ich dir einige persönliche Tipps geben, die ich in meiner täglichen Praxis stets anwende:
1. Frühzeitige und gezielte Interventionen
Alltagsverhalten - Sanftes Beckenbodentraining:
Vermittle deinen Frauen alltagstaugliche Verhaltensweisen. Das ist meiner Meinung nach das Allerwichtigste in der ersten Zeit. Sie werden nicht die Zeit haben “Übungen” zu machen. Danach kommt dann sanftes Beckenbodentraining bzw. Wahrnehmung.
So unterstützt du den Wiederaufbau der Gewebefestigkeit, ohne das empfindliche Gewebe zu überlasten. Ich erlebe immer wieder, dass auch schon kleine, gezielte Übungen einen großen Unterschied machen.
Pro Tipp: Erinnere sie daran, wenn sie spazieren gehen, auch den Rückweg einzuplanen - denn dieser wird oft unterschätzt.😊Stärkung der Bauchmuskulatur:
Übungen zur Aktivierung der tiefen Bauchmuskeln helfen, die Rektusdiastase zu verbessern. Wichtig ist eine schrittweise, angepasste Steigerung.Manuelle Therapie:
Nutze gezielte manuelle Techniken, um die Durchblutung zu fördern und den Umbau des Bindegewebes zu unterstützen.
2. Zusammenarbeit zwischen Physiotherapeut:innen und Hebammen
Integrierte Betreuung:
Arbeite eng mit Hebammen zusammen, um individuelle Therapiepläne zu entwickeln. Eine enge Kooperation führt oft zu den besten Ergebnissen und sorgt dafür, dass sich unsere Patientinnen rundum gut betreut fühlen.Aufklärung und Beratung:
Erkläre deinen Patientinnen offen, warum ihr Gewebe noch weich ist und was sie in den kommenden Wochen erwarten können.
Hinweis zur Fortbildung "Postpartum Pro"
Falls du noch mehr fundiertes Wissen und praxisnahe Tipps zu diesem Thema suchst, möchte ich dich herzlich auf unsere Fortbildung "Postpartum Pro" hinweisen. In diesem Kurs lernst du alles, was du für eine kompetente, sichere und individuelle Betreuung deiner Patientinnen in der postpartalen Phase benötigst. Schau doch mal vorbei – wir freuen uns auf deinen Besuch.
Fazit
Auch wenn Relaxin rasch aus dem Blutkreislauf verschwindet und der Östrogenspiegel sinkt, bleiben die postpartalen Veränderungen im Bindegewebe spürbar. Die in der späten Schwangerschaft angestoßenen Signalwege und Umbauprozesse wirken noch Monate nach der Geburt, während der plötzliche Abfall von Östrogen erst allmählich wieder stabilisiert wird. Dies erklärt, warum das Gewebe nach der Geburt weiterhin weich und dehnbar ist und warum ein langsamer, behutsamer Wiedereinstieg in sportliche Aktivitäten so wichtig ist.
Ich hoffe, dass dieser Beitrag dir hilft, deine Behandlungsstrategien weiter zu optimieren und deine Patientinnen bestmöglich zu unterstützen.
Referenzen:
Bathgate, R. A., Ivell, R., Sanborn, B. M., Sherwood, O. D., & Summers, R. J. (2013). Relaxin family peptides and their receptors.
Relaxin's physiological roles and other diverse actions.
Sherwood OD.Endocr Rev. 2004 Apr;25(2):205-34. doi: 10.1210/er.2003-0013
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